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Sebastian Hartmann

Sebastian Hartmann

deutscher Schauspieler und Theaterregisseur; Intendant des Schauspielhauses Leipzig (2008-2013)
Geburtstag: 18. Mai 1968 Leipzig
Nation: Deutschland - Bundesrepublik

Internationales Biographisches Archiv 09/2023 vom 28. Februar 2023 (fl)
Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 13/2023


Blick in die Presse

Herkunft

Sebastian Hartmann wurde am 18. Mai 1968 in Leipzig als Sohn eines Chefdramaturgen und einer Schauspielerin geboren und wuchs in Leipzig, Greifswald, Cottbus und Berlin-Prenzlauer Berg auf.

Ausbildung

Nach dem Abitur in Berlin absolvierte H. 1986-1988 den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee der damaligen DDR, die ihn wegen mehrfacher Inhaftierung in Unehren entließ. Anschließend studierte er an der Theaterhochschule "Hans Otto" in Leipzig (Abschluss 1992).

Wirken

H. arbeitete zunächst als Schauspieler am Nationaltheater Weimar (1991-1993) und am Carroussel-Theater in Berlin (bis 1994) und nahm auch einige TV-Nebenrollen an, nachdem er seine Vorstellung von Theater nicht realisierbar fand.

Von der freien Szene zur Volksbühne BerlinMitte der 1990er Jahre begann H. mit ersten Regiearbeiten in der freien Theaterszene, ging als Gastdozent zurück an die Schauspielschule und gründete 1997 die freie Gruppe "wehrtheater hartmann", mit der er zu den Festivals "Impulse" (1998) in Wuppertal und "Politik im freien Theater" (1999) in Frankfurt/M. eingeladen wurde. Aufsehen erregte er bereits 1997 in Leipzig mit dem Antikriegsstück "Zerbombt" von Sarah Kane, deren Verlag H. die Aufführungsrechte entzog, da das Stück "nicht im Sinne der Autorin inszeniert" worden sei. Nach weiteren Regiearbeiten am Theaterhaus Jena und an Off-Theatern in Berlin war er 1999-2001 als Hausregisseur an der Berliner Volksbühne tätig. Dort gab er seinen vielbeachteten Einstand mit Henrik Ibsens Familiendrama "Gespenster" und präsentierte via Videoeinspielung den Intendanten Frank Castorf in einer Art Geisterbeschwörung.

Hausregisseur in Hamburg und Gast-Engagements2001-2005 arbeitete H. als Hausregisseur am Hamburger Schauspielhaus, wo er mit dem Schiller-Drama "Die Räuber" debütierte, das er als fatalistische Endzeitparabel in den Weltraum verlegte. In seiner Inszenierung von Max Frischs Burleske "Biedermann und die Brandstifter" (2002) tanzten ein chinesischer Feuerdrache und eine George-W.-Bush-Kopie alptraumhaft über die Bühne. Große Aufmerksamkeit fand H. 2004 in Hamburg auch mit Peter Handkes Sprechstück "Publikumsbeschimpfung", das er mit viel Klamauk und Improvisation inszenierte.

Auch an der Volksbühne Berlin brachte er in dieser Zeit noch diverse Stücke heraus. Weitere Engagements als Gastregisseur führten H. nach Göttingen, Köln und Basel. Am Wiener Burgtheater inszenierte er u. a. Gerhart Hauptmanns Sozialdrama "Vor Sonnenaufgang" (2003). Mit dem norwegischen Heddapreis ausgezeichnet wurden zwei Regiearbeiten H.s am Nationaltheater Oslo: das späte Ibsen-Drama "John Gabriel Borkman" (2004) und eine Bühnenversion von Knut Hamsuns Romanepos "Segen der Erde" (2006). Am Schauspiel Frankfurt löste H.s Inszenierung von Eugène Ionescos "Großem Massakerspiel" 2006 einen Eklat aus, als ein Schauspieler während der Aufführung den FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier beschimpfte und ihm den Notizblock aus der Hand riss ("Spiralblockaffäre"). 2007 folgte in Magdeburg H.s Opernregiedebüt mit Vivaldis "Orlando furioso".

Künstlerische Mission und RegiestilH., der neben der Regie oft auch das Bühnenbild gestaltet, gilt als Ausnahmetalent eines "Bilderfinders". Seine barock ausgestatteten, stets musikalisch unterlegten Inszenierungen mit ihren teils grotesken Regieeinfällen schaffen abenteuerliche Kollisionen aus historischen Geschichten und modernen Bildwelten. Inspiriert von Castorf, entwickelte der "Dekonstruktivist" H. seine eigene Technik der Fragmentierung und Hysterisierung von Stoffen. Ihm ging es weniger um zeitgeschichtliche Bezüge als um philosophisch-existenzielle Reflexionen über "das Wesen Mensch". Um das Publikum zu verstören, echte Gefühle auszulösen oder zum Denken anzuregen, erfand er viele Stücke völlig neu. Bekannt wurde er für expressive Aufführungen mit wilden Nacktszenen und Kunstblut-Eskapaden, wiederholt überschritt er auch die Grenze zum Zuschauerraum. Eine eigene Methode entwickelte er insbesondere für den Umgang mit weltbekannten Romanstoffen. Sein "dialogisches Prinzip zwischen ihm und dem Autor" beeinhaltet keine klassische Bühnenadaption, sondern eine "Bearbeitung auf der Bühne", in die sich auch die Schauspieler und Schauspielerinnen mit ihren Ideen aktiv einbringen (vgl. TdZ, 5/2019). Die Publikumserwartungen hinsichtlich Erzählchronologie und Figurenidentitäten werden hierbei bewusst unterlaufen zugunsten einer motivzentrierten Verdichtung mit freien Assoziationen, was häufig zu kontroversen Reaktionen führte.

Intendanz am Schauspiel Leipzig2007 wurde H. vom Leipziger Stadtrat zum neuen Intendanten des städtischen Schauspielhauses gewählt und trat zur Saison 2008/2009 die Nachfolge von Wolfgang Engel an. Als Erstes benannte H. die Große Bühne in "Centraltheater" um, wie sie in den 1920er Jahren hieß. Er engagierte Nachwuchsregisseure wie Sascha Hawemann und Martin Laberenz oder auch den Kabarettisten Rainald Grebe, dessen Klimarevue "Alle reden vom Wetter" (2009) ein großer Erfolg wurde. Überdies leitete er in Leipzig eine fundamentale Neuorientierung ein, die von Beginn an polarisierte. Mit kontrovers diskutierten Uraufführungen, einer Spielwiese für junge Talente im "Spinnwerk", Kinder- und Jugendprojekten sowie Popkonzerten lockte H. junge Leute ins Theater, verschreckte aber mit seinem "direkten Diskurs" (FR, 30.10.2008) das konservative Publikum und viele Abonnenten. Das Engagement von Guillaume Paoli als "Hausphilosoph" anstelle eines Dramaturgen befremdete teilweise auch das Ensemble. Grabenkämpfe mit der Lokalpolitik um Budgetkürzungen und Vorwürfe wegen sinkender Besucherzahlen führten letztlich dazu, dass H. bereits 2011 bekanntgab, seinen bis 2013 laufenden Vertrag nicht verlängern zu wollen.

Seinen Einstand in Leipzig feierte er 2008 mit der "Matthäuspassion", worin er Ingmar Bergmans Film "Die Abendmahlsgäste", Ibsens Pfarrerdrama "Brand" und Texte aus dem Matthäus-Evangelium zu einem fünfstündigen Triptychon montierte. Während im Premierenpublikum der Schlussapplaus noch die wenigen Buhrufe übertönte, war die Meinung der Fachkritik geteilt (vgl. SZ, 20.9.2008; NZZ, 3.10.2008). Das heterogene Repertoire, das H. als Regisseur auf die Leipziger Bühne brachte, reichte von Klassikern wie Shakespeares "Macbeth" (2008) über Eugene O'Neills Seelendrama "Eines langen Tages Reise in die Nacht" (2009) bis hin zur beliebten Komödie "Pension Schöller" (2011). H.s Theaterversion von Wim Wenders' Roadmovie "Paris, Texas", in der Heike Makatsch ihr Bühnendebüt in der Rolle der Jane gab, wurde als "Meister-Puzzle" gelobt (Bühne, 7/2010), aber auch wegen der "pubertären Faschingsscherze" kritisiert (SZ, 10.5.2010).

2012 brachte H. Hans Falladas Roman "Der Trinker" im Berliner Maxim-Gorki-Theater auf die Bühne und provozierte dort mit einer "Speiorgie" aus Erbrochenem, das minutenlang aus Schläuchen hervorbrach. Die Inszenierung erntete überwiegend harsche Kritik und wurde z. B. als Ausdruck eines "angejahrten Pop- und Trash-Theaters" abgetan (SZ, 24.2.2012). "Den Geist der Vorlage" traf H. jedoch nach Meinung der Frankfurter Rundschau (13.5.2012) mit seiner Bühnenversion von Leo Tolstois Roman "Krieg und Frieden", die 2012 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen Premiere hatte, auch in Leipzig großen Beifall erntete und zum Berliner Theatertreffen 2013 eingeladen wurde.

In seiner letzten Großinszenierung als Intendant, "Mein Faust" (2012), war dagegen keine einzige Silbe aus Goethes "Faust" zu hören, der sich buchstäblich in Schall und Rauch auflöste, wobei menschliche Laute vom Lallen bis zum Gebrüll "Kampf, Begehren, Mord, Sex und Liebe in immer neuen wirren Konstellationen" zeigten (TdZ, 1/2013). Diese Arbeit spaltete erneut die Gemüter; DER SPIEGEL (19.11.2012) sah darin auch ein Sinnbild für die Leipziger Ära eines "großen Pyromanen, der sich leider nur in einem viel zu engen Schaukasten austoben durfte". Zuletzt ließ H. die Guckkastenbühne des Großen Hauses zu einer Amphitheater-Arena aus Holz umbauen, wo von März bis Juni 2013 die sog. "Leipziger Festspiele" stattfanden, ein ungewöhnliches Finale aus Lesungen, Konzerten und Schnell-Inszenierungen, zu denen H. selbst drei kleinere Regiearbeiten beisteuerte. H.s Nachfolger als Intendant wurde der bisherige Chemnitzer Schauspieldirektor Enrico Lübbe, der sein Amt im Aug. 2013 antrat.

Neuere Arbeiten als freier RegisseurH. arbeitete seither u. a. am Schauspielhaus Stuttgart sowie regelmäßig am Deutschen Theater (DT) in Berlin und am Staatsschauspiel Dresden. Einen spektakulären Flop landete er 2014 in Stuttgart mit der Regiearbeit "Staub" nach der Komödie "Purpurstaub" von Sean O'Casey, deren Titel H. auf Druck des Rechteinhabers ändern musste, nachdem sie bei den Ruhrfestspielen Premiere hatte. Mehr Gnade in der Kritik fand seine Bearbeitung von Clemens Meyers Roman "Im Stein" über die Abgründe der Rotlichtbezirke, die H. 2015 in Stuttgart als filmische Live-Bilderorgie mit Drehbühne inszenierte. Irritationen löste hier allerdings die Reduktion der Frauen auf die "Opferrolle" aus (taz, 21.4.2015). Viel Beachtung fanden H.s Interpretationen von epochalen Werken der Weltliteratur, darunter mehrere Romane Fedor Dostojewskis. Zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden 2019 bzw. 2021 H.s Dresdener Inszenierung von "Erniedrigte und Beleidigte" nach Dostojewski (2018) und seine Bühnenversion von "Der Zauberberg" nach Thomas Mann, die 2020 am DT aufgrund der grassierenden Coronavirus-Pandemie als Livestream ohne Publikum Premiere hatte und sich im Wesentlichen auf das "Schnee"-Kapitel konzentrierte. Dies war bereits die zweite "Zauberberg"-Adaption von H. nach der Leipziger Aufführung von 2010. Für das Theatertreffen 2018 nominiert war seine Regieversion des gemeinhin als unspielbar geltenden "Ulysses"-Romans von James Joyce, den H. auf die Leitmotive Tod und Eltern-Kind-Verhältnis verdichtete. Die vierstündige Premiere am DT wurde einerseits als "ein großer Theatergenuss" gepriesen (Bühne, 3/2018), andererseits aber als "effektorientiertes Gezappel" verrissen (SZ, 26.1.2018).

Im Rahmen der Berliner Autorentheatertage 2018 löste H. einen Skandal aus mit dem Prostitutionsdrama "In Stanniolpapier" von Björn SC Deigner, das H. am DT mit expliziten Darstellungen sexualisierter Gewalt auf die Bühne brachte. Der Autor und sein Verlag distanzierten sich von H.s Fassung, die somit nicht mehr als Uraufführung bezeichnet werden durfte. Viel Lob erntete hingegen 2019 seine Uraufführung des Bühnengedichts "Die Politiker" von Wolfram Lotz, präsentiert von der Darstellerin Cordelia Wege als furioser Schlussmonolog in einer Doppelinszenierung mit "Lear" (nach Shakespeare) am DT. H.s Dresdener Inszenierung "Vor den Vätern sterben die Söhne" (2022) nach einem Buch von Thomas Brasch wurde als "skurriler Theaterabend" über die Ambivalenz von dessen Handeln und Prosa rezensiert (FAZ, 4.6.2022). Mit "Der Einzige und sein Eigentum" nahm sich H. 2022 am DT einen philosophischen Text aus dem 19. Jh. von Max Stirner vor. Hierbei überraschte er Kritik und Publikum mit einem "anregenden, witzigen" und zugleich "zarten, melancholischen" Musiktheaterstück, dessen Texte größtenteils "gesungen, nicht gebrüllt" wurden (www.rbb24.de, 5.9.2022; Deutsche Bühne, 11/2022).

Familie

H. ist mit der Schauspielerin Cordelia Wege verheiratet und Vater von vier Kindern. Die Familie wohnt auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern, nahe der polnischen Grenze.

Werke

Inszenierungen u. a.: wehrtheater hartmann: "Kalter Plüsch", "Tränen Spotten" von F. Bruckner, "Zerbombt" von S. Kane (alle 97). Volksbühne Berlin: "Gespenster" von H. Ibsen (99), "Stalker" nach A. Tarkowskij (00), "Der geteilte Himmel" nach C. Wolf (01), "Mysterium Buffo" von W. Majakowski (04). Junges Theater Göttingen: "Clockwork Orange" von A. Burgess (99), "Warten auf Godot" von S. Beckett (00), "Die Zofen" von J. Genet (00). Schauspielhaus Hamburg: "Die Räuber" von F. Schiller (01), "Biedermann und die Brandstifter" von M. Frisch (02), "Platonow" von A. Tschechow (03), "Publikumsbeschimpfung" von P. Handke (04). Burgtheater Wien: "Vor Sonnenaufgang" von G. Hauptmann (03), "Der Steppenwolf" nach H. Hesse (05), "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" nach R. W. Fassbinder (05), "Romeo und Julia" von W. Shakespeare (07). Schauspiel Leipzig: "Matthäuspassion" (08), "Macbeth" von Shakespeare (08), "Der Kirschgarten" von Tschechow (09), "Eines langen Tages Reise in die Nacht" von E. O'Neill (09), "Paris, Texas" nach W. Wenders (10), "Der Zauberberg" nach T. Mann (10), "Pension Schöller" von C. Laufs/ W. Jacoby (11), "Fanny und Alexander" nach I. Bergman (11), "Krieg und Frieden" nach L. Tolstoi (12), "Mein Faust" (12), "Entscheide dich für die Liebe. 3 Russen" (13). Deutsches Theater Berlin: "Der Löwe im Winter" von J. Goldman (14), "Woyzeck" von G. Büchner (14), "Berlin Alexanderplatz" nach A. Döblin (16), "Ulysses" nach J. Joyce (18), "In Stanniolpapier" von B. SC Deigner (18), "Hunger. Peer Gynt" nach K. Hamsun/ Ibsen (18), "Lear" nach Shakespeare/"Die Politiker" von W. Lotz (19), "Der Zauberberg" (20), "Der Idiot" nach F. Dostojewski (21), "Der Einzige und sein Eigentum" (22; Musiktheater). Schauspiel Stuttgart: "Staub" nach S. O'Casey (14), "Im Stein" nach C. Meyer (15), "Der Raub der Sabinerinnen" von P. u. F. Schönthan (16). Staatsschauspiel Dresden: "Erniedrigte und Beleidigte" (18) u. "Schuld und Sühne" (19) nach Dostojewski, "Der nackte Wahnsinn + X" nach M. Frayn (20), "Das Buch der Unruhe" nach F. Pessoa (21), "Vor den Vätern sterben die Söhne" nach T. Brasch (22). Sonstige Bühnen: "John Gabriel Borkman" von Ibsen (04), "Segen der Erde" nach Hamsun (06; beide Oslo), "Das große Massakerspiel" von E. Ionesco (06; Frankfurt/M.), "Orlando furioso" von A. Vivaldi (07; Oper; Magdeburg), "Der Trinker" nach H. Fallada (12; Gorki-Theater Berlin), "Dämonen" nach Dostojewski (15), "Der Revisor" von N. Gogol (16), "Traumnovelle" von Arthur Schnitzler (23; alle Frankfurt/M).

27. April 2023: Premiere am Staatsschauspiel Dresden: "Vernichten" von Michel Houellebecq. Regie: Sebastian Hartmann.

Auszeichnungen

Auszeichnungen u. a.: Heddapreis (05; 07).



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