Von Dieter Meindl
Jede literaturgeschichtliche Darstellung, die sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika befaßt, steht gegenwärtig vor einem besonderen Problem. Der Kanon etablierter Autoren wird fortschreitend umgestaltet. Minoritätenangehörige und Frauen (unterprivilegierte gesellschaftliche Gruppen) finden zunehmend Berücksichtigung. Die zentrale literaturwissenschaftliche Kategorie heißt derzeit ,Differenz’. Die Vorstellung von einem nationalen kulturellen Erbe weicht der Idee von einer kulturellen und damit auch literarischen Vielfalt auf sprachlicher, ethnischer, geschlechtsspezifischer/sexueller, populärer/elitärer und klassen-, regional- und milieubedingter Grundlage. Jean-François Lyotard zufolge (“Das postmoderne Wissen”, 1979) ist unsere Epoche gekennzeichnet durch die Universalität des Heterogenen. Ansatzpunkte für eine derartige Betrachtungsweise bieten jedoch schon die gesamte Entwicklung der USA wie auch die vorausgehenden kolonialen und vorkolumbianischen Kultur- und Literaturtraditionen.
Die thematische Einschränkung dieses Überblicksartikels auf die englischsprachige Gegenwartsliteratur der USA macht die vorliegende Aufgabe nicht leichter. Sprachgrenzen – wie die zwischen dem Englischen und dem Spanischen im Bereich der mexikanisch-amerikanischen Chicano-Literatur – verlaufen bisweilen durch einzelne Texte. Vollends ist der Begriff “Gegenwartsliteratur” Definitionssache. Sicher lassen sich Gründe dafür (aber auch dagegen) anführen, die angloamerikanische Gegenwartsliteratur, wie hier praktiziert, mit dem Zweiten Weltkrieg beginnen zu lassen. Vorausgesetzt wird dabei, daß Literatur, in besonderem Maße jedoch der Roman mit seinem ...