Von Martin Lienhard
Andine GesellschaftDie Grenzen des Andenraums sind nicht eindeutig festzulegen. Geht man von den geographischen Verhältnissen aus, müßte man den von der Andenkordillere beherrschten Westrand des südamerikanischen Kontinents mit diesem Begriff bezeichnen. Da sich aber kulturelle und literarische Praxis nicht so sehr in geographischen, sondern in geschichtlich gewachsenen, gesellschaftlichen und kulturellen Räumen abspielt, wäre eine solche Grenzziehung nicht sinnvoll. Der Andenraum im weiten Sinne (vom karibischen Meer bis nach Südchile) stellt weder in geschichtlicher noch in sozio-kultureller Hinsicht eine Einheit dar. Eine solche bildet hingegen, und zwar schon seit vorspanischer Zeit, das Gebiet der mittleren Anden (Andes centrales).
Zur Zeit seiner spanischen Eroberung (1532) bestand im andinen Kerngebiet ein einigermaßen homogenes wirtschaftliches, gesellschaftliches und kulturelles System, das in jahrtausendelanger Entwicklung gewachsen und erst kurz zuvor durch die Inka in einem großen pluri-ethnischen Staat zusammengefaßt worden war. Diesem Staat waren andere andine Staaten vorausgegangen. Wie aus den von den Archäologen postulierten “Kulturhorizonten” zu schließen ist, war es lokalen Dynastien schon seit etwa 2000 Jahren hin und wieder gelungen, bestimmte Teile des zentralen Andenraums für längere Zeit unter ihre Kontrolle zu bringen (Tiahuanaco, Chavín, Huari). Die ...