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Claude Lanzmann

Claude Lanzmann

französischer Filmemacher und Autor
Geburtstag: 27. November 1925 Bois-Colombes
Todestag: 5. Juli 2018 Paris
Nation: Frankreich

Internationales Biographisches Archiv 01/2019 vom 1. Januar 2019 (sb)


Blick in die Presse

Herkunft

Claude Lanzmann wurde 1925 in Bois-Colombes, einer kleinen Stadt nordwestlich von Paris, als Sohn eines Dekorateurs geboren. Er wuchs dort in einer assimilierten Familie auf, die Großeltern waren jüdische Immigranten aus Osteuropa. L.s Mutter Paulette Grobermann verließ die Familie in den 1930er Jahren für eine neue Beziehung mit dem Dichter Monny de Boully. L.s Bruder Jacques (1927-2006) war Schriftsteller und Songtexter. Seine Schwester, die Schauspielerin Evelyne Rey (1930-1966), nahm sich das Leben.

Ausbildung

Als Schüler des Lycée Blaise Pascal in Clermont-Ferrand schloss sich L. während des Zweiten Weltkrieges 1943 der französischen Résistance gegen die nationalsozialistische deutsche Besatzungsmacht an und beteiligte sich an Partisanenkämpfen. Nach dem Krieg setzte er sein in Paris begonnenes Philosophiestudium zusammen mit dem Schulfreund und späteren Schriftsteller Michel Tournier ab 1947 im französisch besetzten Tübingen fort und schloss mit einer Arbeit über den deutschen Aufklärungsphilosophen Gottfried Wilhelm Leibniz († 1716) ab.

Wirken

Dozent und Journalist1948/1949 war L. als Lektor an der neu gegründeten Freien Universität (FU) im Westen Berlins tätig. Großen Ärger bei der Universitätsleitung und der französischen Militärregierung in der Vier-Sektoren-Stadt handelte er sich mit einem Antisemitismus-Seminar ein, das er auf Wunsch der Studenten abhielt, sowie mit einem Artikel über Missstände an der FU, der Anfang 1950 in der "Berliner Zeitung" im sowjetisch kontrollierten Ostsektor Berlins erschien. Die Pariser Tageszeitung "Le Monde" druckte etwas später eine Artikelserie von L. über das geteilte Deutschland und die sozialistische DDR. Gut 20 Jahre lang war er als Journalist tätig, schrieb für die Zeitung "France-Soir" ebenso wie für große Magazine ("Paris Match", "Elle") und lieferte neben Reportagen aus Krisengebieten (u. a. Nordkorea) auch Prominentenporträts, Essays und Kolumnen.

Mit Beginn der 1950er Jahre lebte L. wieder in Paris und zählte dort zum engen Freundeskreis um den existenzialistischen Philosophen Jean-Paul Sartre und dessen Lebensgefährtin Simone de Beauvoir, den Gründern des linksintellektuellen Magazins "Les Temps Modernes". L. gehörte zunächst zum Redaktionskollektiv und wurde nach de Beauvoirs Tod 1986 selbst Herausgeber der berühmten Monatszeitschrift, die er bis zu seinem Tod im Juli 2018 leitete. Er unterzeichnete auch das "Manifest der 121" gegen die Repressionen der französischen Kolonialmacht im Algerienkrieg (1954-1962) und redigierte 1967 eine Sonderausgabe der "Temps Modernes" mit Beiträgen israelischer und arabischer Autoren über den Nahostkonflikt, der seit Gründung des Staates Israel (1948) zu mehreren Kriegen mit den arabischen Nachbarn führte. Nach der Besetzung von Palästinensergebieten durch Israel im Sechstagekrieg (1967) stellte sich L. auf die Seite der israelischen Juden. Unter dem Eindruck eines aufkeimenden linken Antisemitismus nach den Studentenrevolten 1968 begann er, sich intensiv mit dem Holocaust auseinanderzusetzen.

Filmemacher Nach seiner Mitarbeit am Drehbuch des Filmdramas "Élise ou la vraie vie" (1970) wandte sich L. dem Dokumentarfilm zu. Zum Themenkomplex Israel, Judentum und Holocaust drehte er eine hoch gelobte Filmtrilogie, die 1973 mit seinem Regiedebüt "Pourquoi Israel" (dt. "Warum Israel") begann, worin er sich mit dem Selbstverständnis des Staates Israel befasste. Weltweite Berühmtheit bescherte ihm der zweite Teil "Shoah" (1985), ein neunstündiger Dokumentarfilm, dessen Titel das hebräische Wort für "Katastrophe, Vernichtung" auch in anderen Sprachen etablierte: als Synonym für den NS-Völkermord an sechs Millionen europäischen Juden. Für die nach einhelliger Kritikermeinung grundlegende filmische Auseinandersetzung mit dem Holocaust hatte L. zwölf Jahre gebraucht und 350 Interviewstunden mit überlebenden Opfern, Tätern und Beobachtern aufgezeichnet, wobei er auf jegliches Archivmaterial verzichtete und ausschließlich Zeitzeugen zu Wort kommen ließ. Diese mussten das Erzählte nochmals durchleben und machten den Film so zu einem "ursprünglichen Ereignis", wie L. es nannte. An der Filmpremiere in Paris nahm auch der französische Staatspräsident François Mitterrand teil, in Deutschland lief der vielfach ausgezeichnete Film 1986 auf der Berlinale und danach im Fernsehen. Die Berlinale-Jury, die L. 2013 den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk verlieh, würdigte "Shoah" als "epochales Meisterwerk der Erinnerungskultur". Nur selten wurde es jedoch in voller Länge gezeigt, wie zuletzt 2015 in der Essener "Lichtburg", wo L. in einer Rede seine eherne Regel als Filmemacher erläuterte, den Holocaust nicht "verstehen" zu wollen, da jeder Versuch einer Erklärung aus historischen Bedingungen "vollkommen unbefriedigend" sei (zit. n. FAZ, 27.1.2015). Auch vertrat er die Meinung, dass keine fiktionalisierte Darstellung - wie etwa der Stephen-Spielberg-Film "Schindlers Liste" (1993) - dem unfassbaren Grauen der Schoah gerecht werde.

Auf dem Filmfestival in Venedig stellte L. 1994 mit "Tsahal" den dritten Teil seiner jüdischen Trilogie vor, der von der Geschichte der israelischen Armee und ihrer Verankerung in der Gesellschaft handelt. Dieser Film war nicht nur in Frankreich, sondern auch in Israel umstritten und wurde von manchen als unkritische Hymne auf das Militär empfunden. Nach Meinung der Süddeutschen Zeitung (9.9.1994) ging es darin jedoch eher um die Widersprüche, "die sich immer wieder mitten durch die Personen ziehen, wenn aus Opfern physischer Gewalt Anwender eben dieser Gewalt werden - notgedrungen zunächst", da ohne militärische Verteidigung der israelische Staat längst nicht mehr existieren würde.

Später drehte L. mehrere Filme auf der Basis von Interviewmaterial, das aus diversen Gründen keine Verwendung in "Shoah" fand. Vom einzigen erfolgreichen Aufstand in einem NS-Vernichtungslager handelt der Film "Sobibór. 14 octobre 1943, 16 heures" (2001), worin der ehemalige Lagerinsasse Yehuda Lerner erzählt, wie er in Sobibór mit der Ermordung eines SS-Offiziers durch einen Axthieb das Fanal zum Aufstand gab. Für L. wurde dieser "mythische Moment" zum Zeichen für die "Wiederinbesitznahme der Gewalt durch die Juden" (vgl. taz, 17.5.2001). Als TV-Beitrag (Arte) erschien 2010 "Le rapport Karski" (dt. "Der Karski-Bericht"), ein Interviewfilm mit dem fr. polnischen Widerstandskämpfer Jan Karski, der 1943 mit hochrangigen Repräsentanten der USA sprach, damals aber mit seinen Augenzeugenberichten aus der Ghetto- und KZ-Realität auf Unglauben stieß.

L.s vielbeachtete Dokumentation "Le dernier des injustes" (2013; dt. 2015, "Der Letzte der Ungerechten") war dem österreichischen Rabbiner Benjamin Murmelstein († 1989) gewidmet, der in der NS-Zeit Schlüsselämter der jüdischen Selbstverwaltung in Wien und im KZ Theresienstadt (als sog. Judenältester) bekleidete und dabei mit dem SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann zusammenarbeiten musste. Der auch unter Historikern umstrittene, oft als Verräter oder Kollaborateur angesehene Murmelstein passte nicht in das Täter-Opfer-Schema von "Shoah". In den 2013 veröffentlichten Filminterviews mit ihm wollte L. zeigen, dass die vermeintliche Nazi-Marionette in der Lage war, "die Fäden selber zu ziehen", dadurch auch viele Juden retten konnte und zudem das von Hannah Arendt geprägte Bild des "banal-bösen" Bürokraten Eichmann revidierte, der vielmehr ein veritabler Dämon gewesen sei (FAZ, 27.5.2013).

L.s letzte Regiearbeit "Les Quatre Sœurs" (2017; dt. "Vier Schwestern") wurde im Jan. 2018 als vierteilige Dokumentarserie vom deutsch-französischen Kultursender ARTE ausgestrahlt. Lange Interviews mit vier Frauen, die seinerzeit keine Verwendung in "Shoah" fanden, lassen ein Gruppenporträt von durch ihr Schicksal verbundenen jüdischen Frauen entstehen. Der Film, der einen Tag nach L.s Tod im Juli 2018 in die französischen Kinos kam, illustriert laut der WELT (14.7.2018) "die unterschiedliche Fähigkeit zur Resilienz, dieses ungerecht verteilte Vermögen, sich nach Leid, Terror und Tod wieder aufrichten zu können".

Buchautor Zu mehreren seiner Filme brachte L. die aufgezeichneten Texte auch in Buchform heraus, darunter "Shoah" mit einem Vorwort von Simone de Beauvoir (1985; dt. 2011). Eine Sammlung von Reportagen, Porträts und weiteren Texten, die er ab 1947 geschrieben und publiziert hatte, erschien 2012 unter dem Titel "La tombe du divin plongeur" (dt. 2015, "Das Grab des göttlichen Tauchers"). Auch zu "Le dernier des injustes" gab L. - unter dem gleichen Titel - 2015 (dt. 2017) ein Buch heraus, das das Interview und Szenen des Films dokumentiert.

L.s Autobiographie "Le lièvre de Patagonie" (2009; dt. 2010, "Der patagonische Hase") eroberte zügig die französischen Bestsellerlisten und wurde von namhaften Magazinen wie Le Point und Lire zum Buch des Jahres gewählt. In Deutschland sprachen Kritiker von einem "Meisterwerk", das "auch eine philosophische Unternehmung" sei (FAS, 17.1.2010). Für DIE ZEIT (16.4.2009) war es "halb Zeitdokument, halb Lebensgeschichte, ein Geschichtsbuch der Moderne, das sich zum Teil wie ein Krimi liest, ein Abenteuerroman, der anrührt, aber auch zum Lachen bringt". Allerdings wurde L. in manchen deutschen Feuilletons auch vorgehalten, die Hintergründe um den Rücktritt Edwin Redslobs vom Rektorat der FU Berlin (1950) falsch dargestellt zu haben, was eine Debatte um den Wahrheitsgehalt von Memoiren auslöste.

Familie

L. war 1952-1959 mit der 17 Jahre älteren Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir liiert, mit der er bis zu ihrem Tod 1986 freundschaftlich verbunden blieb. In erster, geschiedener Ehe (1963-1971) war er mit der französischen Schauspielerin Judith Magre verheiratet. Auch seine 1971 geschlossene Ehe mit der Berliner Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff (1927-2016) wurde geschieden.

Am 5. Juli 2018 starb L. im Alter von 92 Jahren in Paris. Neben seiner dritten Ehefrau, der Ärztin Dominique Petithory, die er 1995 geheiratet hatte, hinterließ er seine Tochter Angélique (* 1950). Sein Sohn Félix (* 1993) starb 2017 an Krebs. Beigesetzt wurde L. auf dem Friedhof Montparnasse, in dessen Nähe er auch gewohnt hatte, im gleichen Grab wie sein Sohn.

Werke

Filme u. a.: "Élise ou la vraie vie" (70; nur Drehbuch), "Pourquoi Israel" (73; dt. "Warum Israel"), "Shoah" (85), "Tsahal" (94), "Un vivant qui passe" (99; dt. "Ein Lebender geht vorbei"), "Sobibór. 14 octobre 1943, 16 heures" (01; dt. "Sobibor. 14. Oktober 1943, 16 Uhr"), "Le rapport Karski" (10; TV; dt. "Der Karski-Bericht"), "Le dernier des injustes" (13; dt. "Der Letzte der Ungerechten"), "Les Quatre Sœurs" (17; dt. 18, "Vier Schwestern"). Eine Gesamtausgabe mit 10 DVDs erschien 2010.

Bücher: "Shoah" (85; dt. 11; Filmtexte), "Le lièvre de Patagonie. Mémoires" (09; dt. 10, "Der patagonische Hase. Erinnerungen"), "La tombe du divin plongeur" (12; dt. 15, "Das Grab des göttlichen Tauchers"), "Le dernier des injustes" (15; dt. 17, "Der Letzte der Ungerechten").

Literatur

Dokumentation: "Claude Lanzmann: Spectres of the Shoah" (15; Dokumentarfilm von Adam Benzine; dt. 18, "Claude Lanzmann - Stimme der Shoah", von ARTE ausgestrahlt).

Auszeichnungen

Auszeichnungen u. a.: British Academy Award, Preise d. Filmkritikerverbände v. New York u. Los Angeles (85), Caligari Film Award, FIPRESCI Award, Ehren-César, IDA Award, Rotterdam Award (86), BAFTA Flaherty Documentary Award, Adolf-Grimme-Preis (87), Preis d. Leserjury von "Standard"/Viennale (01), Literaturpreis "DIE WELT" (10), Grand Officier de la Légion d'Honneur (11), Goldener Ehrenbär/Berlinale (13), Cinema Eye Honors Award (14) sowie mehrere Ehrendoktorate.

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften/weitere Ämter u. a.: Akademie der Künste Berlin (ab 98), Professor für Dokumentarfilm an der Schweizer European Graduate School mit Sommerkursen im Alpenort Saas-Fee (ab 01).



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