Von Eckhard Thiele
Anders als zum Beispiel die deutsche, englische, französische Literatur reicht die Sowjetliteratur nicht in vergangene Jahrhunderte. Im 20.Jahrhundert entstanden und auch wieder verschwunden, war sie unverkennbar eine Zeiterscheinung.
Handelt es sich trotzdem um Literatur von bleibendem Wert, oder teilt sie das Schicksal anderer Dinge, die mit dem Attribut sowjetisch versehen waren? Was war überhaupt sovetskaja literatura, sowjetische oder Sowjetliteratur? Die einfachste, lange Zeit gängige Definition lautete: Sowjetliteratur heißt die in der Sowjetunion geschriebene sozialistische Belletristik. Sie umfaßte die schöngeistigen Werke, deren Urheber – das bleibt in dem Satz zwar unausgesprochen, aber doch deutlich – Bürger der UdSSR waren und sich einer der Sprachen bedienten, die dort Heimatrecht genossen, gleichviel, ob von Völkern, Volksgruppen oder Nationalitäten gesprochen: Russisch, Ukrainisch oder Belorussisch, Litauisch, Lettisch oder Estnisch, Georgisch, Armenisch oder Aserbaidschanisch, Jiddisch, Tatarisch, Tadshikisch, Usbekisch, Turkmenisch, Kirgisisch, Kasachisch usw. Die mehr als siebzig Sprachen müssen hier nicht aufgezählt werden; auch die Muttersprache der jahrzehntelang unterjochten Rußlanddeutschen sei nur beiläufig erwähnt.
Die Sowjetliteratur diente der Russifizierung; sie war multinational und wurde in vielen Sprachen geschrieben, vornehmlich aber in Russisch, der sanktionierten, kulturell dominierenden Verkehrssprache. Trotz aller Unterdrückung der verschiedenen nationalen Traditionen und ...