Von Ulrich Fleischmann und Ellen Spielmann
Brasilien im 19.JahrhundertDie Diskussion über die brasilianische Literatur des 19.Jahrhunderts wird – mehr noch als bei den anderen neuen Nationalliteraturen des Kontinents – von der Frage beherrscht, wie der deutliche Einfluß ausländischer (vor allem französischer) literarischer Modelle zu verstehen sei: als ein Symptom der Entfremdung von den besonderen historischen Bedingungen des Landes oder als ein eigenständiger Umgang mit Vorbildern, die als Maßstab der Modernität nicht zu umgehen waren. Die Bedeutung dieser Frage ergibt sich aus den besonderen Umständen der brasilianischen politischen Emanzipation: An ihrem Anfang stand nicht, wie in den hispanophonen Ländern, ein Unabhängigkeitskrieg, durch den ein Bruch mit den kolonialen Traditionen eingetreten wäre. Statt dessen gab es eine allmähliche Ablösung, ausgelöst durch die Wirren der napoleonischen Kriege und die Flucht des portugiesischen Hofes in die Kolonie. Da König Pedro 1822 die Rückkehr verweigerte und sich zum Kaiser von Brasilien ausrufen ließ, war die Unabhängigkeit mehr die Folge einer Spaltung des Königshauses als die einer bürgerlichen Protestbewegung. Wohl wurde 1824 eine Verfassung verkündet, doch blieben die gesellschaftlichen Strukturen feudal, geprägt durch die Beibehaltung der Sklaverei innerhalb einer Latifundien-Monokultur (Zucker, später auch Kaffee) und Extraktions-Wirtschaft (Gold- ...