Von Dieter Riemenschneider
Literaturhistoriker pflegen die literarischen Werke eines Sprachraums unter nationalstaatlichen Gesichtspunkten zu erörtern und sie als Nationalliteratur zu begreifen. Dabei werden in aller Regel politische Aspekte sprachlichen zur Seite gestellt. Dies ist freilich ein methodischer Ansatz, der bei der Betrachtung jener Literaturen fraglich wird, die durch die koloniale Herrschaft europäischer Staaten in außereuropäischen Regionen entstanden und zudem in den Sprachen der jeweiligen Kolonialherren abgefaßt sind. Hier von nationalstaatlichen Literaturen zu sprechen, hieße Literaturgeschichte auf den Kopf stellen, denn die von den Kolonisatoren oft in Absprache untereinander gezogenen Grenzen ihrer Kolonien berücksichtigten nur in den seltensten Fällen vorfindliche ethnisch-linguistische oder politische Gegebenheiten. Mit anderen Worten: einen Staat “Kenia” gab es vor dessen “Gründung” durch die britische Kolonialadministration ebensowenig wie die Staaten “Uganda” oder, in anderen Teilen des britischen Weltreiches, “Nigeria”, “Ghana” oder “Jamaika”. Nationalstaatliche Betrachtung erscheint allenfalls noch für die Literaturen Kanadas, Australiens oder Neuseelands möglich, wo indigene Kulturen und Literaturen von den britischen Siedlern zerstört oder doch zumindest nicht wirklich wahrgenommen wurden, so daß sich im Verlaufe der Zeit eigenständige englischsprachige literarische Traditionen entfalten konnten.
Nun ließe sich, um den Blick auf Ostafrika zu lenken, freilich einwenden, daß die politisch-staatliche ...